Der Sauerteig, das Leben und der ganze Rest

Seit nunmehr zwei Wochen stand der Ansatz für den Sauerteig wohlbehütet in seiner Wärmequelle. Das Roggenmehl war mit lauwarmem Wasser angerührt worden. Liebevoll wurde jeden Tag etwas frisches Wasser und Mehl hinzugefügt, sorgfältig umgerührt und das Gefäß behutsam erneut in die Wärme geschoben. Dennoch lässt sich beim besten Willen dieses graue, saure und dünnflüssige Etwas nicht als Sauerteig bezeichnen. „Es funktioniert doch sonst auch immer so.“ Eine Stimmung der Verzweiflung beginnt sich auszubreiten. Was ist passiert?

Wer das Glück hat auf dem Dorf aufgewachsen zu sein, hat möglicherweise die natürlichen Jahresrhythmen noch kennen gelernt. Ich denke dabei nicht an die zyklisch wiederkehrenden Winzer-, Oktober- und sonst wie Massensauffeste, obwohl die durchaus noch letzte Relikt davon enthalten. Sondern gemeint sind die Prozesse von Pflügen, Säen, Wachsen und Ernten, dem Wechsel von hoher Energie und Aktivität zu Ruhe. Der Sauerteig braucht Energie, um die Lebensprozesse zu aktivieren und das Brot muss später ruhen, damit es Zeit hat Blasen zu entwickeln und aufzugehen. Offensichtlich lassen sich noch nicht alle Lebensprozesse mechanisch ersetzen. Selbst jenseits jeglicher Romantik existieren diese Vorgänge – auch wenn nicht mehr in Weidekörben und Hanfsäcken gesammelt wird, sondern die automatischen Vollernte-Maschinen über die Äcker rollen.

Das Erlebnis mit dem lieben Freund und wirklich hervorragenden Bäcker zeigt mir wieder einmal deutlich, die natürlichen Kräfte walten doch, ob wir sie bewusst wahrnehmen oder nicht, ob wir sie kennen oder nicht. So sehr wir uns auch anstrengen, die Natur und ihre Prozesse zu leugnen, zu verdrängen zu zerstören, so sehr wirken sie dennoch – auch hinein in ein entseeltes Wirtschaftssystem, in Werkhallen, in dauerbeleuchtete Städte und Büros.

In der Zeit vor Weihnachten sind die Tage kurz und die Nächte lang. Der Antrieb, neue Projekte zu beginnen gering und die Sehnsucht nach dem großen Ohrensessel am Kamin oder der Sauna mit Massage nimmt beständig zu. Ebenfalls zu nimmt die charakteristische Stimmung von gehetzt, übel gelaunt und missmutig; besonders von Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln, Kaufhäusern und ähnlichen menschlichen Begegnungsknotenpunkten. Schnell muss noch jeder Geschäftspartner gegrüßt, eine Adventsfeier organisiert werden und die Wohltätigkeitsveranstaltung wartet auch noch auf den Besuch, weil sich die Geldbörsen, an diesen Tagen besonders leicht und weit öffnen lassen.

Ganz dringend muss noch der Liebesbeweis für Weihnachten käuflich erstanden werden. Da greift man schon mal tief in die Tasche, um die Zeit, die man sich n i c h t genommen hat in Barem zurückzuzahlen.

Das ganze Jahr über lassen sich Nachlässigkeiten oder Fehler verzeihen, nicht so an Weihnachten – dem Fest der Liebe und des Friedens mit der höchsten Selbstmordrate und Rückfallquote bei Suchtkranken.

Es sind keine 100 Jahre her, dass sehr viel mehr Menschen in landwirtschaftlichen geschlossenen Ökosystemen lebten. Da wurde diese Jahreszeit ganz anders begangen:

Die Vegetationsperiode geht zu Ende, die Lebensenergie nimmt ab. Die Feldarbeiten sind abgeschlossen, das Schwein und die Gänse geschlachtet, die Bienenstöcke eingewintert, so dass die Keller und Vorratskammern für die Menschen gefüllt sind und genügend Futter für die überwinternden Nutztiere vorhanden ist. Jetzt werden die Werkzeuge und Gartengeräte überholt und die Wolle gesponnen und verarbeitet. Wenn die Weiden nicht bereits vollständig zu Körben verflochten sind, werden sie eingeweicht und verarbeitet. Man rückte wieder um den Herd zusammen. Befeuert war meist nur der in der Küche, der zum Zubereiten der Mahlzeiten, zum Erwärmen des Wassers und zum Konservieren der verschiedensten Lebensmittel verwendet wurde.

Jetzt wurde es früh dunkel und das Arbeiten bald eingestellt, weil künstliche Beleuchtung bares Geld kostete, das in diesen bäuerlichen Systemen rar war. Übrigens gab es im Hunsrück z. B. bis in die 1960er Jahre hinein eine funktionierende Tauschwirtschaft.

Die Adventszeit ist eine traditionelle Fastenzeit. Das Gebäck aus weißem Mehl mit Mandeln, Nüssen und Gewürzen kommt den Bedürfnissen nach geringerer körperlicher Belastung entgegen und liefert doch das notwendige Fett gegen die Kälte. Das Leben und die Aktivitäten in Natur nahen Lebenssystemen richten sich nach den äußeren Gegebenheiten und da wird alles ein bisschen langsamer.

Die Impulse sich zurückzuziehen und der altmodisch gewordene Begriff der „Besinnung“ gründen alle in demselben Phänomen:

Vom 21sten auf den 22sten Dezember steht die Sonne senkrecht über dem südlichen Wendekreis der anderen Erdhälfte. Auf der Nordkugel der Erde – also auch in unseren Breitengraden (50°) – ist Winter-Sonnwende. Dieser Zeitpunkt markiert den Beginn des astronomischen Winters. Zur Wintersonnenwende erreicht die Sonne im Jahreslauf ihren tiefsten Stand in Bezug auf den Meridiandurchgang. Jetzt folgt dem kürzesten Tag die längste Nacht, weil der größere Teil der täglichen Sonnenbahn unterhalb des Horizonts liegt.

Das Jahr und mit ihm das Licht stirbt in dieser Nacht.

In alten Erzählungen heißt es, die kosmischen Wirkungen brauchten zwei Tage bis sie auf die Erde treffen. Am 24sten Dezember also wird in der „Heiligen Nacht“ das Neue geboren. Die Kirchenväter haben offensichtlich geschickt agiert, in dem sie die Natursymbolik aufgegriffen haben und ihr die christliche Bedeutung gaben. Die Geburt des Christuskindes ist damit auch symbolisch eingebettet in den natürlichen Jahresrhythmus. Der Heiland, das Licht der Welt wird geboren, wenn die Nacht am längsten und am tiefsten ist.

Und wie das so ist mit Neugeborenen, sie sind sehr empfindlich. Deshalb hat man in der alten Zeit dieser empfindlichen Phase des Jahres, in der die kosmische Strahlung sehr hoch sein soll, einen Namen gegeben. Man nennt sie die „Rauhnächte“. Sie dauern bis zum 5. Januar und werden mit verschiedenen vorsorgenden Ritualen versehen. Eines davon ist das Räuchern. Das steckt in dem Namen mit drin. Es sind die Nächte, in denen geräuchert wird. Das Verbrennen verschiedener getrockneter Kräuter oder auch von Tannen hat eine reinigende und desinfizierende Wirkung und kommt auch dem Gemüt zugute. Außerdem sollte es böse Geister vertreiben, die in dieser Zeit bevorzugt durch die Luft schwirren. Danach, am 6. Januar, gehen die Sternsinger durch das Land und schließen die Reihe der heiligen Nächte und Tage ab.

Wo geräuchert wird ist es meist gemütlich. Licht von Bienenwachskerzen soll angeblich das Meditieren unterstützen. Vielleicht gelingt es ja in diesem Jahr, tief in der Stille die Ehrfurcht vor dem Leben zu spüren und zu begreifen, dass es ein Teil dessen ist, was in allen Religionen unter „heilig“ verstanden wird.

3 Kommentare zu „Der Sauerteig, das Leben und der ganze Rest“

  1. 😀 so ein Abenteuer habe ich mit meinem ersten selbstgemachten Sauerkraut erlebt, es ist einfach toll, auch diese Rückbesinnung auf „handgemachtes“ finde ich wunderbar, da stellt sich die viel beworbene Achtsamkeit von ganz alleine ein 😉

    Herzliche Grüße ❤

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    1. Danke für Deine Rückmeldung.Ja, Sauerkraut kann auch ein sehr lebendiges Erlebnis sein. Dem kann ich mich auch mit persönlichen zum Glück auch guten Erfahrungen anschließen. „Achtsamkeit“ ist meiner Meinung nach so eine Modeerscheinung geworden. Nicht, dass ich es schlecht finde. Jeder hat seine ganz persönlichen Lebenswege zu gehen. Wahrscheinlich sind es einfach hermeneutische Zirkel und Prozesse, mit denen Altes, neu ausgedrückt werden kann.

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